Bereits seit 1996 führt China die Weltrangliste der größten Stahlerzeugerländer an und es hat nicht den Anschein, als sollte sich dieser Zustand in den kommenden zehn Jahren ändern. In früheren Standpunkt-Ausgaben und anderen Veröffentlichungen hat THINK!DESK diese außergewöhnliche Entwicklung mit Analysen der Bestimmungsfaktoren dieses Wachstumssegments chinesischer Industrieentwicklung nachgezeichnet.

Im Jahre 2008 durchbrach China als erstes Land der Welt die Schwelle von 500 Mio. Tonnen Rohstahlproduktion bei einem inländischen Verbrauch von etwa 470 Mio. Tonnen. Auf den ersten Blick beeindrucken beide Werte, einerseits da sie die Dimensionen widerspiegeln, die für die wirtschaftliche Dynamik des Landes charakteristisch sind. Japan, die Nummer zwei in der Welt, kam 2008 mit 118 Mio. Tonnen lediglich auf ein knappes Viertel der chinesischen Produktion während Deutschland – nach wie vor das führende Erzeugerland in Europa – gerade einmal 46 Mio. Tonnen Rohstahl herstellte. Andererseits vermitteln die Zahlen den Eindruck, dass China hauptsächlich für den eigenen Bedarf produziert und eine Überflutung des Weltmarktes nicht zu erwarten steht.

Der Eindruck täuscht. Tatsächlich bleibt die chinesische Stahlproduktion weit hinter dem wirklichen Potenzial zurück: Bereits zu Beginn des Jahres 2009 verfügten Chinas Stahlkonzerne über eine Gesamtkapazität von 660 Mio. Tonnen – weitere 58 Mio. Tonnen befanden sich im Bau. Laut Aussage von Li Yizhong, dem Minister für Industrie und Informationstechnologie, steht zu erwarten, dass China noch im Jahr 2009 in der Lage sein wird, die Marke von 700 Mio. Tonnen zu durchbrechen. Stellt man diese Zahlen dem inländischen Verbrauch gegenüber, zeigen sich gigantische Kapazitätsüberhänge von mindestens 190 Mio. Tonnen!

Obwohl auch China unter den Folgen der internationalen Wirtschaft- und Finanzkrise leidet und weit unterhalb seines Potenzials operiert, überrascht es nicht, dass sein Anteil an der internationalen Stahlproduktion auf bisher ungekannte Höhen anstieg. Im dritten Quartal 2009 wurde bereits jede zweite weltweit erzeugte Tonne Rohstahl in China hergestellt. Wesentliche Ursache für diese Entwicklung ist neben den drastischen Produktionsrückgängen in den meisten Ländern der OECD vor allem die anhaltend hohe Inlandsnachfrage. Das Konjunkturpaket der chinesischen Regierung hat eine deutliche Stabilisierung, in vielen Bereichen sogar eine Ausweitung der Nachfrage, bewirkt.

Aber trotz der raschen Zunahme des inländischen Stahlverbrauchs stellt sich die Frage, wie die beeindruckenden Kapazitäten sinnvoll genutzt werden können, ohne dass der Weltmarkt von chinesischen Exporten überflutet wird. Der vorliegende Standpunkt widmet sich den Ursachen und Hintergründen des Kapazitätsaufbaus und untersucht, auf welche Weise die chinesischen Behörden mit diesem Problem umgehen.

Kernthemen sind daher die aktuellen industriepolitischen Eingriffe der Regierungsbehörden mit dem Ziel, die Konsolidierung der Branche voranzutreiben und das lange verfolgte Ziel einer umfassenden China Stahl AG Wirklichkeit werden zu lassen.

Hohe Investitionstätigkeit der Stahlhersteller

Ungeachtet der Erschütterung der Weltwirtschaft und der Rückgänge beim internationalen Handel, haben die Anlageninvestitionen der chinesischen Stahlindustrie auch in den Jahren 2008 und 2009 weiter zugenommen – allein im ersten Halbjahr um 140,5 Mrd. Yuan (20,6 Mrd. USD). Für das Gesamtjahr 2009 wird sogar mit einem Investitionsvolumen von 340 Mrd. Yuan (49,8 Mrd. USD) gerechnet. Begünstigt durch das gesunkene Zinsniveau und die gelockerten Vergaberichtlinien für Bankkredite konnten zahlreiche Investitionsprojekte realisiert werden.
Ein großer Teil davon wurde in die Modernisierung der Produktionstechnologie investiert. Zusätzlich unterstützt die chinesische Regierung die Stahlindustrie bei der Stärkung ihrer Innovationskraft und technologischen Kompetenz. Gezielt gefördert werden sollen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im weitesten Sinne: neben Grundlagenforschung und Produktentwicklung auch die Modernisierung der Produktionsanlagen und die Weiterentwicklung importierter Technologien. Ein Sonderfonds mit 20 Mrd. Yuan zur Vergabe zinsvergünstigter Kredite an Unternehmen bildet ein wesentliches Element dieser Konzeption.

Verschärfung der Markteintrittsbedingungen

Bereits seit 2007 gilt ein generelles Verbot für Neuprojekte, das im März 2009 um weitere drei Jahre verlängert wurde. Dieses Verbot gilt jedoch nur für Neukapazitäten und reine Erweiterungsprojekte und erlaubt Ausnahmen für Unternehmen, die sich verpflichten, ältere Produktionsanlagen durch neue zu ersetzen. Großprojekte, wie das von Baosteel in Zhanjiang (Guangdong) und das von Wuhan Steel in Fangchenggang (Guangxi) wurden vorübergehend auf Eis gelegt. Trotzdem ist es nicht gelungen, die Enstehung neuer Anlagen aufzuhalten, vor allem dann, wenn lokale Behörden solche Projekte unterstützen. In einer Stellungnahme des Staatsrats zum Thema Überkapazitäten wird bemängelt, dass Lokalregierungen das Verbot von Neuprojekten unterlaufen und dabei geltendes Recht missachten. Dasselbe Dokument prangert an, dass Betriebsgenehmigungen und Umweltschutzgutachten in vielen Fällen widerrechtlich erteilt oder erst gar nicht angefordert werden. Die Investition öffentlicher Finanzmittel in Erweiterungsprojekte der Stahlindustrie wird ausdrücklich untersagt. Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, wird Behörden und Verwaltungsbeamten, die den politischen Richtlinien in den Bereichen Umweltschutz, Vergabe von Landnutzungsrechten und Krediten oder den industriespezifischen Entwicklungsrichtlinien zuwiderhandeln, strenge Bestrafung angedroht. Seit dem Sommer 2009 arbeiten verschiedene Behörden, wie das Ministry of Industry and Information Technology (MIIT) und die National Development and Reform Commission (NDRC) gemeinsam mit Vertretern von Unternehmen und Verbänden an neuen technischen Mindeststandards für den Betrieb von Stahl- und Walzwerken. Durch die Anhebung der Mindestvoraussetzungen für den Betrieb von Hochöfen, Konvertern und Lichtbogenöfen wird versucht, den Kreis der legal operierenden Firmen immer weiter einzugrenzen. 2005 forderte die Iron and Steel Industry Development Policy die Schließung aller Hochöfen mit Volumina von weniger als 300 Kubikmetern und aller Konverter mit Kapazitäten von unter 20 Tonnen bis 2010, so wurden diese Ziele im Rahmen des Adjustment and Revitalization Plan for the Steel Industry auf 400 Kubikmeter bzw. 30 Tonnen heraufgesetzt.

Zwangsstilllegung veralteter Anlagen stockt

Die Bemühungen zur Stilllegung kleiner, veralteter oder stark umweltbelastender Anlagen haben bislang nur geringe Fortschritte gemacht. Jedoch wurden in einigen Provinzen, z.B. Liaoning und Hebei, Taskforces für die Auffindung und Eliminierung veralteter Kleinbetriebe gebildet. Lokale Behörden in zahlreichen Arbeitsbereichen, wie Umweltschutz, Investitionsförderung, Steuern, Strom- und Wasserversorgung oder Landnutzung wurden angewiesen, die Einhaltung der betrieblichen Mindestvoraussetzungen aller Stahlunternehmen durchzusetzen. Finanzinstitute wurden erneut angemahnt, die Kreditgewährung von der Erfüllung dieser Kriterien abhängig zu machen.

Doch obwohl die Stilllegung veralteter Kleinbetriebe ganz oben auf der politischen Agenda steht und die institutionellen Rahmenbedingungen schrittweise geschaffen werden, bleiben die Ergebnisse weit hinter den Erwartungen zurück wie das folgende Beispiel zeigt. Bei einer Stichprobenuntersuchung von 84 Stahlherstellern in der Provinz Liaoning im Sommer 2009 fanden sich 21 Unternehmen ohne gültige Genehmigung und 13 Betriebe, die ohne Zustimmung der zuständigen Behörden eingerichtet worden waren. Schätzungen zufolge existieren in Liaoning noch mindestens 200 weitere Betriebe, die noch nicht überprüft wurden. Dass Zwangsstilllegungen auch tatsächlich durchgeführt werden, zeigen folgende Beispiele: In Hubei schlossen die Behörden 16 Produktionsanlagen und weitere 6 in Chongqing. In der Region Tangshan wurden 76 Hochöfen stillgelegt, in Ma’anshan 5. Die damit verbundene Kapazitätsreduktion ist angesichts der eingangs genannten Daten jedoch vernachlässigbar.

Kleinunternehmen überleben und expandieren

Kleineren Stahlherstellern gelang es jedoch nicht nur, sich der drohenden Zwangsschließung zu entziehen, viele schafften es sogar zu expandieren und auch in Krisenzeiten ein hohes Produktionsniveau zu halten. Die folgenden Zahlen machen das deutlich: zwischen Januar und August stieg die chinesische Stahlproduktion um 5,2 Prozent 2009. Großunternehmen verzeichneten eine Zunahme von lediglich 0,3 Prozent während Kleinbetriebe ihr Angebot um 26,7 Prozent ausweiten konnten. Diese Entwicklung hat gleich mehrere Ursachen.

1. Die Belebung der chinesischen Stahlnachfrage hat in besonderem Maße die Produktbereiche erfasst, in denen kleinere Hersteller schwerpunktmäßig aktiv sind. Gerade bei technisch wenig anspruchsvollen Lang- und Flachprodukten für die Bauindustrie hat der Verbrauch in den letzten zwölf Monaten stark zugenommen. Dies liegt im Wesentlichen an den gesamtwirtschaftlichen Stützungsmaßnahmen der Regierung. Im Rahmen des Konjunkturpakets wird der Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Flughäfen, Krankenhäusern und zahlreichen weiteren Infrastrukturprojekten vorangetrieben. Der Wiederaufbau der bei dem Erdbeben im vergangenen Jahr schwer zerstörten Städte und Dörfer in Südwestchina, für den ein Viertel des vier Billionen Yuan umfassenden Konjunkturpakets reserviert ist, wird ebenfalls große Mengen von Baustahl verschlingen. Das gleiche gilt für die staatlichen Programme im sozialen Wohnungsbau, die auch der einfachen Stadtbevölkerung in Zeiten rasch steigender Immobilienbewertungen bezahlbaren Wohnraum sichern sollen. Als Konsequenz daraus, legte der Verbrauch von Langprodukten im ersten Halbjahr 2009 um 18,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Bei Flachprodukten stieg der Verbrauch hingegen nur um 4,6 Prozent.

2. Aufgrund der relativ geringen Größe der Produktionsanlagen gelang es kleineren Herstellern sich schneller den Nachfrageschwankungen anzupassen. Zwar verfügen die führenden Großunternehmen, wie Baosteel und Anben Steel, über hocheffiziente Produktionsanlagen, die bei normaler Auslastung zu deutlich geringeren Durchschnittskosten produzieren können, dafür ist ihre Reaktionsfähigkeit auf Nachfrageschwankungen bedingt durch die größere Anlagengröße begrenzt.

3. Die enge Verbindung zwischen Betrieben und Regierungsbehörden auf lokaler Ebene ermöglichte die Bildung vielfältiger Kooperationsformen, wie z. B. die Kapitalbeteiligung lokaler Verwaltungen oder die Kooptierung von Führungspersonal aus Behördenvertretern. Wie in unserer Studie „The State-Business Nexus in China’s Steel Industry – Chinese Market Distortions in Domestic and International Perspective“ (online verfügbar als Bericht von THINK!DESK China Research & Consulting auf den Seiten von EUROFER (1,5 MB)) bereits ausführlich dargelegt, haben Lokalbehörden starke Anreize, die Betriebe in ihrem Verwaltungsbereich zu unterstützen. Neben direkten Einnahmen aus Steuern und Kapitalbeteiligungen bringen Stahlunternehmen eine Reihe weiterer Vorteile mit sich. Sie können als Impulsgeber und Rohmateriallieferant lokaler Industriecluster agieren und bieten darüber hinaus Beschäftigungsmöglichkeiten für lokale Arbeitskräfte. Um diese win-win-Situation zwischen Unternehmen und Verwaltungen aufrecht erhalten zu können, gewähren letztere direkte Subventionen, Steuernachlässe oder stellen Industriegrundstücke, Energie, Wasser oder Rohmaterialien zu vergünstigten Konditionen zur Verfügung. Als Konsequenz daraus war es einigen Unternehmen möglich, ihre Verluste zu reduzieren oder sogar zu expandieren.

Überkapazitäten durch gedoppelte Projekte

Eine weitere Eigenschaft, die erheblich zur Ausbildung von Überkapazitäten in China beiträgt, ist der Trend zur imitierenden Produktion. Wie die China Iron and Steel Association (CISA) jüngst noch einmal dargelegt hat, ist es in der chinesischen Stahlindustrie üblich, dass Unternehmen sich bei Erweiterungs- oder Upgradeprojekten schwerpunktmäßig auf dieselben Produktbereiche stürzen. Anstatt eine Diversifikation anzustreben, die sich an den tatsächlichen Nachfragebedingungen orientiert, um so Überkapazitäten in einzelnen Bereichen zu vermeiden und die ausreichende Versorgung über alle Marktsegmente zu gewährleisten, neigen die Unternehmen dazu, gleichzeitig in dieselben Produktbereiche zu investieren. Dies hat in der Vergangenheit zu einer äußerst raschen Ausweitung der Kapazitäten von CR oder HDG geführt und betrifft inzwischen zunehmend technisch anspruchsvollere und hochwertigere Produktkategorien. Problematisch ist, dass in einzelnen Produktsegmenten innerhalb kürzester Zeit, am internationalen Maßstab gemessen, riesige Kapazitäten entstehen, die sich jedoch hinsichtlich der möglichen Produktspezifikationen und Qualitätsstandards sehr ähnlich sind.

Während noch vor vier oder fünf Jahren hauptsächlich die Hersteller von Langprodukten unter Unterauslastung infolge von Überkapazitäten litten, haben sich Angebot und Nachfrage in diesem Bereich inzwischen schrittweise angenährt. Seit 2006 beobachten wir stattdessen ein deutliches Auseinanderlaufen von Angebot und Nachfrage im Flachstahlsegment. Besonders nachdem die industriepolitischen Initiativen der vergangenen Jahre auf die Entwicklung des Flachstahlsegments abgezielt haben, ist gerade dieser Bereich zunehmend von Überkapazitäten betroffen. Die Iron and Steel Industry Development Policy aus dem Jahre 2005 forderte beispielsweise, dass bis 2010 die Hälfte der Stahlproduktion auf Flachprodukte entfallen sollte. Im Einklang mit diesen Vorgaben, richteten sich zahlreiche Neuprojekte der letzten Jahre auf den Bereich höherwertiger Flachstahlprodukte, z. B. für den Schiffbau, während führende Hersteller wie Wuhan Steel, Tangshan Steel oder Capital Steel die Herstellung von einfachen Langprodukten vollständig aufgaben. Auch kleinere Stahlunternehmen, die aufgrund ihrer veralteten Anlagenausrüstung von der Zwangsschließung durch die Zentralbehörden bedroht waren, rüsteten auf und verlegten sich, soweit ihre Investitionsmittel das erlaubten, auf die Flachstahlherstellung. Als Konsequenz daraus entwickelten sich die Preise verschiedener Low-end Produkte, wie Walzdraht, Profilstahl oder Betonstabstahl besser als dies bei High-end Produkten der Fall war. Dies kam Kleinunternehmen zugute, die mangels moderner Produktionstechnologie auf die Fertigung von Langprodukten beschränkt waren und eigentlich geschlossen werden sollten.

Nebenwirkungen des Konjunkturpakets

2008 fielen 49 Prozent der in China hergestellten Stahlprodukte in den Bereich Langprodukte. Als Folge des Konjunkturprogramms mit seinen zahlreichen Infrastruktur- und Bauprojekten stieg der Anteil im Laufe der ersten neun Monate 2009 sogar bis auf 51 Prozent. Die NDRC erwartet für die kommenden Monate und das Jahr 2010 sogar eine weitere Zunahme bis auf 60 Prozent. Daher ist nicht davon auszugehen, dass sich diese Aufteilung in den nächsten Jahren ändern wird, solange die Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse weiter die bestimmenden Themen der chinesischen Wirtschaftentwicklung bleiben werden.

Branchenkonsolidierung als Allheilmittel?

Als Wurzel allen Übels sehen die wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger des MIIT und der NDRC vor allem den geringen Konzentrationsgrad der Stahlbranche. Während die Konsolidierung der internationalen Stahlindustrie in den vergangenen zehn Jahren durch zahlreiche Übernahmen und Zusammenschlüsse große Fortschritte gemacht und Branchenriesen, wie ArcelorMittal mit einer Jahresgesamtleistung von über 100 Mio. Tonnen Rohstahlproduktion hervorgebracht hat, hinkt China deutlich hinterher. CISA zufolge gibt es in China noch immer etwa 900 Einzelunternehmen, die mit der Erzeugung und Verarbeitung von Stahl beschäftigt sind. Das Potenzial für Kombinationen ist groß und die Regierungsbehörden auf zentraler Ebene versuchen aktiv diesen Prozess anzuschieben. Ausgehend von den Produktionsdaten der ersten neun Monate des Jahres 2009, ergibt sich ein Marktanteil von 42 Prozent für die größten zehn Unternehmen. Die Top4 teilen sich in China lediglich 24 Prozent der Gesamtproduktion – in den USA sind es 64 Prozent, in Japan sogar 75 Prozent.

Drei wesentliche Probleme verhindern derzeit eine erfolgreiche Branchenkonsolidierung

1. Zusammenschlüsse von Staatsunternehmen, die sich im Besitz von Verwaltungsbehörden auf unterschiedlichen Hierarchiestufen befinden, sind kompliziert und zeitaufwändig, dabei ist das Potenzial in diesem Bereich besonders groß. Mit rund 60 Prozent entfällt noch immer ein sehr großer Teil der Stahlproduktion auf staatseigene Unternehmen bzw. Firmen mit staatlicher Kapitalbeteiligung. Außerdem stehen die 25 größten Hersteller mit wenigen Ausnahmen unter staatlicher Kontrolle. Tatsächlich jedoch stehen protektionistische Bestrebungen lokaler Behörden einer erfolgreichen Konsolidierung im Wege. Ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, die eine solche Kombination mit sich bringt, war der Zusammenschluss von Anshan Steel und Benxi Steel. Während Anshan Steel im Besitz der Zentralregierung war und von der zentralen State-owned Asset Administration and Supervision Commission (SASAC) verwaltet wurde, befand sich Benxi Steel unter der Kontrolle der Provinzregierung von Liaoning. Der Zusammenschluss, der bereits 2005 bekannt gegeben wurde, ist bis heute nicht vollständig abgeschlossen. Interessengegensätze gab es in zahlreichen Bereichen, wie z. B. der Aufteilung des Eigentums an Produktionsmitteln und Steuereinnahmen, der Kontrolle über die Stellenbesetzung, die Aufteilung von Produktionsaktivitäten, die Freisetzung nicht mehr benötigter Arbeitskräfte um nur einige wenige zu nennen. Als Konsequenz aus diesen Interessenkonflikten, verzögerte sich die Integration der beiden Einzelunternehmen erheblich, sodass die beiden Teilfirmen bis heute separat an der Börse notiert sind.

2. Zusammenschlüsse von Unternehmen aus unterschiedlichen Verwaltungsregionen sind schwierig, zumal wenn es sich um staatseigene Unternehmen im Besitz von Lokal- oder Provinzregierungen, handelt. Da Stahlunternehmen, wie oben bereits angesprochen, eine große Bedeutung für die regionale Wirtschaftsentwicklung zukommen kann, ist die Bereitschaft auf Seiten der Lokalregierungen, zur Aufgabe bzw. zum Zusammenschluss von Standorten gering. Es steht zu befürchten, dass Arbeitsplätze verloren gehen und Steuereinnahmen weg brechen. Zusätzlich wird die Steuerung und Kontrolle des übernommenen Unternehmens über die eigenen Einflussgrenzen hinaus verlagert. Daher wird es für lokale Behörden schwieriger oder gar unmöglich, Einfluss auf die Produktionspalette, die Absatzkanäle oder Beschäftigungspolitik auszuüben. Es ist daher üblich, dass lokale Regierungen versuchen, sich mit allen Mitteln gegen die Übernahme eines Stahlunternehmens aus ihrem Verwaltungsbereich zur Wehr zu setzen. Ausnahmen bilden natürlich solche Fälle, in denen das Übernahmeziel hoch defizitär arbeitet und nur durch Stützungszahlungen der lokalen Behörden am leben gehalten werden kann. Zu bedeutende Durchbrüchen kam es erst seit 2007 durch die Übernahme von Shaoguan Steel (Guangdong) durch Baosteel (Shanghai) und der Gründung von Guangdong Steel. Etwa zeitgleich expandierte Wuhan Steel (Hubei) durch die Übernahme von Liuzhou Steel (Guangxi) und gründete die Guangxi Steel.

3. Zusammenschlüsse von Unternehmen unterschiedlicher Eigentumsformen sind ebenfalls schwierig. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Privatunternehmen versucht einen staatseigenen Betrieb zu übernehmen. In vielen Fällen treten lokale Behörden gleichzeitig als Unternehmenseigentümer, Regulierer, Lieferant von Energie, Wasser und Vorprodukten und in vielen weiteren Rollen auf. Feindlich Übernahmen sind unter solchen Bedingungen nahezu ausgeschlossen. Aber selbst wenn die Verwaltungsebene, die einen Betrieb kontrolliert, zustimmt, ist das noch keine Garantie für eine erfolgreiche Übernahme, denn auch die bisherige Unternehmensführung und die Beschäftigten müssen dem Deal positiv gegenüberstehen. Da Übernahmen das Ziel haben, die Branchenkonsolidierung voranzutreiben, steht von Anfang an fest, dass ein Teil der erworbenen Kapazitäten stillgelegt und eine nennenswerte Anzahl von Beschäftigten entlassen werden müssen. Aber nicht nur für die Entlassenen ist die Übernahme ein Unglück, auch die Weiterbeschäftigten verlieren ihren Status als Angestellte in einem staatseigenen Betrieb. Damit reduzieren sich die Privilegien und die Ansprüche auf soziale Absicherung bei Krankheit und im Alter. Was geschehen kann, wenn versucht wird, eine Übernahme gegen den Willen der Belegschaft durchzusetzen zeigen zwei Fälle aus dem Sommer 2009. Im ersten Fall scheiterte die Jianlong Heavy Machinery Group beim Versuch den staatseigenen Stahlhersteller Tonghua Steel (Jilin) zu übernehmen. Die Nachricht, dass ein sehr großer Teil der Belegschaft von Tonghua Steel ihren Arbeitsplatz verlieren würde, löste gewaltsame Proteste aus in deren Verlauf der designierte Direktor durch den Betrieb gejagt und schließlich erschlagen wurde. In einem ähnlichen Fall scheiterte die Übernahme des staatseigenen Unternehmens Linzhou Steel in Anyang (Henan) durch den privaten Wettbewerber Fengbao Steel am Protest der Beschäftigten, die im Falle einer erfolgreichen Kombination der beiden Firmen deutliche materielle Nachteile hätten tragen müssen.

Wie gravierend dieses Probleme noch immer sind, zeigt sich daran, dass das MIIT im Adjustment and Revitalization Plan for the Steel Industry explizit auf die institutionellen Barrieren für M&A eingeht. Das Ministerium beklagt, dass Lokalregierungen protektionistische Hürden aufbauen und sich den Bestrebungen zur Branchenkonsolidierung auf überregionaler Ebene widersetzen. Bis 2011 sollen alle administrativen Hindernisse, die lokalitätsübergreifenden Zusammenschlüssen im Wege stehen, z. B. die Aufteilung von Steuereinnahmen, die Zuweisung von Kapitalmitteln oder die Genehmigung von Krediten betreffend, abgebaut werden.

Das Beispiel der Provinz Hebei zeigt, dass die Behörden gezielt auf M&A setzen, um Überkapazitäten zu reduzieren. Mit 137 Mio. Tonnen installierter Rohstahlkapazität, was in etwa dem Dreifachen der deutschen Jahresproduktion entspricht, liegt Hebei in China unangefochten an der Spitze. Über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren sollen dort nun die Kapazitäten auf 80 Mio. Tonnen zurückgeführt werden. Dieses Ziel soll im Wesentlichen durch Unternehmenszusammenschlüsse und den damit verbundenen Wegfall von Produktionsanlagen erreicht werden.

Fokussierung auf Spitzenunternehmen

Das Ziel der Wirtschaftsplaner besteht darin, eine stark zentralisierte Stahlindustrie zu schaffen, in der eine kleine Zahl hochinnovativer und international äußerst wettbewerbsfähiger Unternehmen den Heimatmarkt unter sich aufteilt. Diese Zielsetzung zieht sich wie ein roter Faden durch alle die Stahlindustrie betreffenden industriepolitischen Dokumente. Die Iron and Steel Industry Development Policy aus dem Jahr 2005 fordert, dass die größten zehn Stahlerzeuger ihren gemeinsamen Marktanteil bis 2010 auf 50 Prozent und bis 2020 sogar auf 70 Prozent steigern sollen. Weiterhin sollen zwei Stahlkonzerne mit einer Jahreskapazität von 30 Mio. Tonnen Rohstahl und einige weitere mit Kapazitäten über 10 Mio. Tonnen gebildet werden. Während der tatsächliche Produktionsanteil der Top10 mit 42 Prozent (Q1-Q3 2009) bisher deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, ist es gelungen, zwei Großkonzerne mit deutlich über 30 Mio. Tonnen Jahresproduktion zu schaffen: die Hebei Iron and Steel Group und Baosteel. Des Weiteren werden im laufenden Jahr voraussichtlich acht weitere Stahlproduzenten die Marke von 10 Mio. Tonnen übertreffen.

Der Adjustment and Revitalization Plan for the Steel Industry aus dem Frühjahr 2009 sieht vor, dass bis 2011 mindestens 45 Prozent der Gesamtproduktion auf die führenden fünf Stahlkonzerne entfallen sollen.

Anfang November 2009 gab das MIIT dann bekannt, dass es anstrebt, eine kleine Gruppe von drei bis fünf Großkonzernen zu „züchten“, die in der Lage sein sollen, erfolgreich am Weltmarkt zu agieren. Gleichzeitig wird die Bildung von sechs oder sieben Konzernen gefördert, die die Schwerpunkte der derzeitigen und künftigen Branchenkonsolidierung bilden sollen. Bisher nicht offiziell bestätigten Berichten zufolge, wird beabsichtigt, bis 2015 ein oder zwei Großkonzerne mit Rohstahlkapazitäten je über 100 Mio. Tonnen zu bilden. Bis 2020 sollen die Top10 schließlich einen Anteil von 75 Prozent haben. Konkretere Informationen über die Vorstellung der Behörden erwarten wir durch die Veröffentlichung der Guidelines for Promoting M&A in the Steel Industry im Dezember 2009.

Ausblick

Die Entwicklung der chinesischen Stahlindustrie ist weit weniger stark von den Auswirkungen der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen worden als zuvor erwartet. Zahlreiche Beobachter hatten damit gerechnet, dass die Krise zu einem deutlichen Rückgang der Stahlnachfrage (Exportnachfrage UND Inlandsnachfrage) führen und die Auslese unter den zahlreichen Stahlherstellern beschleunigen würde. Stattdessen brachte die Krise jedoch weder Rückenwind für die Konsolidierungsstrategie der Zentralregierung noch förderte sie die Dominanz der Großkonzerne. Zu erklären ist das nur durch die Verbindung der kapazitätserhaltenden Nachfragestimulierung des Konjunkturprogramms und der lokalprotektionistischen Bestrebungen.

Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat deutlich gezeigt, dass administrative Maßnahmen alleine nicht ausreichen, um die Branche aus etwa 900 sehr heterogenen Stahlunternehmen in eine nach außen eng abgegrenzte Gruppe technisch hochgerüsteter und international erfolgreicher Superunternehmen umzuschmieden. Nachdem die Chance auf eine aus betriebswirtschaftlicher Sicht effiziente Konsolidierung der Stahlindustrie vertan wurde, steht zu erwarten, dass Verwaltungsbehörden auf allen Ebenen noch mehr diskretionäre Eingriffe zur Anpassung der Branchenstruktur ausprobieren. Tatsächlich erwarten wir bis zum Jahresende die Veröffentlichung von wenigstens drei Richtungsweisenden Strategiedokumenten – das bedeutendste davon: eine Neufassung der Iron and Steel Industry Development Policy.

Obwohl die Zentralregierung ihr industriepolitisches Instrumentarium und die institutionellen Rahmenbedingungen für dessen Einsatz angepasst hat, bleibt offen, ob eine staatlich angeordnete Branchenkonsolidierung wirklich als Ersatz für den natürlichen Ausleseprozess einer Marktmarktwirtschaft (ohne „chinesische Charakteristika“) dienen kann.

(Prof. Dr. Markus Taube und Peter Thomas in der Heiden, 24. November 2009)